Eigentlich wollte ich ein ganz anderes Buch schreiben, einen Thriller. Dann dachte ich: Wir sind in einem Thriller. Sie und ich. Nicht als Leser und Autor. Als Akteure.
Besagter Thriller schreibt sich seit Menschengedenken fort und wechselt dabei immer wieder den Titel. Aktuell heißt er Klimakrise. Pandemie. Digitalisierung. Terror. In der Vergangenheit hieß er Kalter Krieg, Wettrüsten, davor Zweiter Weltkrieg, Erster Weltkrieg, Dreißigjähriger Krieg, Hexenverfolgung, Pest, Sintflut, Vertreibung aus dem Paradies, um nur einige zu nennen. Neue Titel sind annonciert. Kleiner Vorgeschmack? Supermeteorit, Herrschaft der Maschinen, Invasion Außerirdischer oder schlicht Überbevölkerung.
Nicht nur Deutsche, aber ganz besonders Deutsche, lieben eher Krimis. Leichen und Ermittler sind hierzulande noch beliebter als Golden Retriever und Fernsehköche. Nicht, dass wir blutrünstig wären. Wir mögen es nur einfach, die aus den Fugen geratene Welt wieder in Ordnung gebracht zu sehen. Anders als beim Thriller steht beim Krimi die Eskalation am Anfang. Jemand wird gemeuchelt, Verdächtige marschieren auf, wo waren Sie gestern Abend, die Schlinge zieht sich zu, Showdown, Fall abgeschlossen. Nichts beruhigt so wie ein schöner Krimi.
Thriller funktionieren andersrum. Am Anfang steht Normalität. Heile kleine Welt. Familie, Nachbarn, Freunde. Dann bricht etwas ein. Unheimlich, unerklärlich. Die Ordnung erodiert, und je weiter das Ganze voranschreitet, desto schlimmer wird es. Sicher geglaubte Strukturen zerfallen. Gewissheiten enden, Vertrautes wendet sich gegen uns. Thriller erzählen vom Kontrollverlust. Bei Roland Emmerich pflegt das im Weltuntergang zu enden. Ich teile diese Freude am Zerdeppern. Es macht Spaß, Städte auszulöschen und Ungeheuer auf die Menschheit loszulassen. In der Literatur, im Film ist es ein Spiel mit dem Unvorstellbaren: Was wären wir in der Lage, zu ertragen? Was macht die Katastrophe, der Zusammenbruch mit uns? Bleiben wir solidarisch? Wie dünn ist die Decke der Zivilisation, wie nah der Mensch am Monster?
Das herauszufinden, kann unterhaltsam sein, aber auch ziemlich erschreckend. Kommt man der Wirklichkeit zu nahe, greift sie kalt nach einem. Vielleicht haben Sie den VirenThriller ›Contagion‹ gesehen. Die Pandemie wird am Ende eingedämmt, aber der Film entlässt einen nicht gerade mit einem Gefühl der Beruhigung. Thriller sind perfide. Sie stellen die Ordnung nur scheinbar wieder her. Die Bedrohung bleibt. Im Falle von ›Das Schweigen der Lämmer‹ können wir dieses Gefühl sogar genießen. Wir wollen Hannibal Lecter zwar nicht persönlich begegnen, ihn aber unbedingt wiedersehen. Die Chance, so einem ins Messer zu laufen, geht im echten Leben schließlich gegen null. In Steven Spielbergs Verfilmung des H.G.WellsKlassikers ›Krieg der Welten‹ geht es um Außerirdische. Nicht unser drängendstes Problem und auf der Skala prospektiver Bedrohungen noch Lichtjahre hinter Hannibal the Cannibal, dennoch hat der Film viele Menschen verstört. Die Aliens entfesseln einen gnadenlosen Genozid. Wir haben ihnen nichts entgegenzusetzen. Der Held ist ganz unheldenhaft auf der Flucht und kaum imstande, seine Kinder zu beschützen. Durch ihn erleben wir das Gefühl völligen Ausgeliefertseins.
Warum erzähle ich Ihnen das?
Weil es viel mit unserer Wirklichkeit zu tun hat. Das Gute an der Fiktion ist, dass wir den Kinosaal verlassen und das Buch zuklappen können. Insofern haben Thriller etwas Heilsames. Spannung kann sich entladen. Denn wir stehen unter Druck. Täglich konsumieren wir die Befindlichkeiten eines kompletten Planeten. Die Nachrichten sind ein Komprimat dessen, was schiefläuft, wie soll man nicht glauben, dass die Welt den Bach runtergeht? Relevantes muss berichtet werden! Aber Fakt ist, dass die Verdichtung schlechter Nachrichten nicht die wahren Verhältnisse widerspiegelt, in denen die Leben von Millionen Menschen friedlich und geregelt verlaufen, viel Gutes geschieht und gemeinhin wenig, was eine PrimetimeBerichterstattung rechtfertigen würde. In der echten Welt verdünnen sich Katastrophen auf ein ungleich größeres Maß an Normalität, gibt es weniger Kriege, Armut, Krankheit und Hunger denn je (wenn auch immer noch zu viel). In der medialen Welt dissonieren Dutzende Alarmglocken.
Als Folge fühlen wir uns dauerbedroht: Klimawandel, Killerviren, Flüchtlingsströme, künstliche Intelligenz, Jobverlust, religiöser Terror, Zusammenbruch der Demokratien, Erstarken rechter Populisten – der Thriller, in dem wir leben, löst kaum etwas davon auf, und wir können das Buch nicht zuklappen, das Kino nicht verlassen. Wir verharren im Schwebezustand. Bis heute ist die Welt nicht untergegangen, Entwarnung gibt es aber auch nicht. Das steigert die Anspannung. Unsere Ängste wachsen über die Ursachen hinaus. Bezeichnenderweise ist die Furcht vor Ausländern dort am größten, wo kaum welche sind. Zugleich scheint, was uns bedroht, nicht zu existieren. Am Morgen öffnen wir die Tür, der Himmel sieht aus wie immer. Klimawandel? Wo? Und wo sind die intelligenten Maschinen, die uns vernichten wollen? Die Post bringt immer noch der Briefträger, nicht der Terminator. Keine Flüchtlingsströme ziehen durch meine Straße. Keiner kommt, um mich im Namen Gottes in die Luft zu sprengen, obwohl ich gerade eben wieder davon höre. Kein Atompilz steht am Himmel. Corona? Ein Zahlenspiel. Ich bin immer noch nicht infiziert, auch meine Freunde schauen eher genervt als krank aus, aber jeder weiß, es gibt die Kranken, und man kann dran sterben. Der Thriller, in dem wir leben, hält uns hin. Das reibt Menschen auf. Fast schlimmer als der Weltuntergang ist, wenn er sich dauerankündigt, ohne einzutreten. Die Probleme scheinen nur immer mehr zu werden, und die, in deren Hand es läge, sie zu lösen, schließen lasche Abkommen, die sie dann noch unterlaufen. Was also kann man tun? Offenbar nichts. Wem kann man trauen? Offenbar keinem.
Während ich das schreibe, wächst sich die zweite CoronaWelle zum Tsunami aus. 2019 beherrschten Fridays for Future und Gretas Atlantiküberquerung die deutschen Medien. Mit 438.000 Medienbeiträgen war Klimaschutz Topthema, unmittelbar gefolgt von Zuwanderung (über 430.000 Beiträge), Pflege und Gesundheit (268.000), Digitalisierung (235.000) und Rente (206.000). 2020 sah es völlig anders aus. Allein im ersten Halbjahr ging der Spitzenplatz mit 250.000 Beiträgen an COVID19 (Pflege und Gesundheit), weit dahinter rangierten Zuwanderung (über 143.000) und Klimaschutz (knapp 127.000). Letzterer erlitt mit über 52 Prozent den größten Verlust an Medienpräsenz.
Aktuell (Januar 2021) beherrscht Corona unverändert das Nachrichtengeschehen. Auf der Platte springt die Nadel immer wieder in dieselbe Rille. Dennoch sind die übrigen Themen nicht weg. Sie haben medial an Relevanz verloren, bleiben aber im Hintergrund präsent. Keine seelische Entlastung also, nur dass der CoronaDaueralarm alles andere übertönt. So richtig es war (und bis auf Weiteres sein wird), dem Virus maximale Medienpräsenz einzuräumen, kann man dennoch fragen, ob über Monate hinweg jede Talkshow, jede Headline dieser Monothematik unterworfen sein musste. Kein Zweifel, das Monster ist groß. Medial wurde es erdrückend groß. In jeder Sekunde drängelte es sich in den Vordergrund, was viel zur Corona Müdigkeit beigetragen haben dürfte. Man hätte gerne mal was anderes gehört, nur: Hey, lass uns über Geflüchtete und den Klimaschock reden!, war auch nicht gerade geeignet, Trost zu spenden. Man sehnte sich nach etwas Nettem. Es gab nichts Nettes. Alte Menschen vereinsamten in Quarantäne. Viele starben. Ganze Branchen gerieten in die Krise. Millionen bangten und bangen um ihre Jobs. Das Netteste war Netflix. Wie viel Thriller hält man aus, wenn kein Dustin Hoffman mit dem Impfstoff um die Ecke kommt?
So geriet der Klimawandel ins Hintertreffen. Bei aller Fortschrittlichkeit unserer Spezies sind wir evolutionär nicht dazu geschaffen, einem Übermaß globaler Bedrohungen Gleichrangigkeit einzuräumen. Bedroht waren wir immer. Aber nie waren wir so vielen potenziellen Schrecknissen gleichzeitig ausgesetzt wie heute. Man kann schon froh sein, dass die Besiedelung des Weltraums hinter den Träumen der Science FictionAutoren zurückgeblieben ist, andernfalls hätten wir jetzt auch noch Horrormeldungen vom Mars zu verkraften. Was also tun wir? Reagieren auf die unmittelbare, handfeste, sichtbare Bedrohung und schieben die abstrakte beiseite, um nicht vor lauter Ängsten verrückt zu werden. Dabei handeln wir zwar richtig, verlieren aber existenzielle Probleme aus den Augen.
Kurz, der Thriller, dessen Akteure wir sind, bringt uns an die Grenzen unserer psychischen und körperlichen Belastbarkeit. Gefahren auszublenden ist ein Überlebensmechanismus. Zutiefst menschlich. Falls Sie also dem Klimaschutz vorübergehend Ihre Aufmerksamkeit entzogen haben, um mit einer Pandemie zurechtzukommen, deren Ende nicht absehbar ist, gegen die es wenig Schutz gibt und die uns als Gesellschaft auf allen Ebenen verändert, ist das durchaus nachvollziehbar und erst mal nicht zu kritisieren. Krisen drehbuchgerecht in neunzig Minuten abzuhaken, bleibt weiterhin den Fernsehkommissaren überlassen. Wir echten Menschen müssen in der Eskalation bestehen – und nichts eskaliert dramatischer als die Klimakrise. Hätten Gesellschaft, Politik und Wirtschaft das nicht ignoriert, wären wir in einer komfortableren Lage. So läuft uns die Zeit davon. Gleichzeitig werden Forderungen laut, den Klimaschutz angesichts explodierender CoronaKosten herunterzufahren, was ungefähr so schlau ist, als stellte man den Deichbau ein, um für Wasserrohrbrüche gewappnet zu sein.
Wie schaffen wir es, aus der Verdrängung zurück ins Handeln zu finden? Nun, wenn Sie Thriller lieben, wissen Sie, was als Einziges gegen Bedrohungen hilft: sie zu verstehen. Fakt ist, viel stürzt auf uns ein. Fakt ist aber auch, dass Menschen wie keine andere Spezies mit der Gabe gesegnet sind, durch Erkenntnisgewinn Ordnung ins Chaos zu bringen. Bedroht zu sein ist an sich kein Problem. Ohnmacht ist das Problem. Unwissenheit. Hilflosigkeit. Wie im Mittelalter keine Vorstellung davon zu haben, was die Pest überträgt, dementsprechend alles falsch zu machen und daran zu verzweifeln.
Darum habe ich dieses Buch geschrieben (das andere schreibe ich danach zu Ende, versprochen). Um der Klimakrise das Abstrakte, Glaubenskriegerische zu nehmen und auf nicht zu vielen Seiten (und ich sage Ihnen, das fällt mir schwer!) möglichst viel Wissen zusammenzutragen. Wissen ist magisch! Wissen versetzt uns in die Lage, zielgerichtet zu handeln. Wissen gibt uns Kontrolle und Souveränität. Wissen ist die Wunderpille gegen fragwürdige Ideologien. Wissen erzeugt Zuversicht! Wer Dinge versteht, den kann man nicht ins Bockshorn jagen. Der Populismus, in gleich wessen schmieriger Gestalt er pöbelt, ist nicht an differenziertem Denken interessiert. Er kann nur in der Unterkomplexität überleben, also setzt er alles daran, Ängste und Vorurteile zu schüren, Verschwörungstheorien zu verbreiten, Menschen dumm zu halten und ihren Hass auf Sündenböcke zu schüren. Populisten versprechen die Vergangenheit und verspielen die Zukunft. Sie erklären die Blödheit zur Staatsräson. Wohin das führt, lehrt unsere eigene Geschichte. Jetzt haben wir es mit einer Herausforderung für die ganze Menschheit zu tun, und die gute Nachricht ist: Wir können sie meistern.